The Future That Never Happened: Utopien des Internets

Die Geschichte des Internets ist geprägt von Hoffnungen und Utopien. Welche Bilder findet der Film dafür? Wie thematisiert er die Versprechen digitaler Vernetzung? Vier Filme über verheißungsvolle, alternative und gescheiterte Cyber-Zukünfte und ein Gespräch mit Medienwissenschaftlerin Dr. Elisa Linseisen und Medienkünstler*in Malin Kuht.

Als Mark Zuckerberg im Oktober 2021 mit großem Getöse seine Zukunftspläne für facebook enthüllte, rieb sich manch einer verwundert die Augen. Ein „Metaverse“, in dem man sich verabreden, arbeiten und seine Freizeit verbringen kann – gab es das nicht schon einmal? Die Videospielplattform „Second Life“ war 2003 mit einem ähnlichen Versprechen angetreten. Second-Life-Nutzer*innen konnten eigene Avatare programmieren und durch diese virtuellen Stellvertreter*innen in einer ausgedehnten virtuellen Welt miteinander interagieren. Natürlich, facebooks „Metaverse“ soll größer sein, umfassender, eine völlig neue Verschmelzung von Online- und Offline-Realität. Aber die Idee ist nicht neu, ebenso wenig die Rhetorik, mit der die geplante Cyber-Parallelwelt beworben wird.

Die Geschichte des Internets ist geprägt von Hoffnungen, Verheißungen und Utopien. Nicht alle stammen aus den research labs und innovation hubs internationaler Großkonzerne, und nur die wenigsten wurden tatsächlich realisiert. Das heißt aber nicht, dass diese Technikfantasien nicht irgendwo sichtbar würden. Ausgerechnet der Film, das Leitmedium des 20. Jahrhunderts, hat eine Fülle von Bildern dafür entwickelt, wie die digitalen Zukünfte des 21. Jahrhunderts irgendwann einmal aussehen könnten. Wenn wir an weltumspannende Datenströme denken, an digitale Vernetzung, Super-Computer und virtuelle Welten, dann fallen uns ikonische Filmszenen ein, die kräftig an unseren Vorstellungen des Digitalen mitarbeiten.

Doch Filme imaginieren nicht nur nahe oder ferne Cyber-Zukünfte. Sie können auch reale, technische Versuche dokumentieren, andere Visionen des Internets Wirklichkeit werden zu lassen. Mit vier filmischen Arbeiten und zwei Expert*innen aus Medienkunst und -wissenschaft möchten wir diskutieren: Was sind es für Bilder, die sich der Film vom Internet macht? Wie thematisiert er die Verheißungen und Versprechen der digitalen Vernetzung? Welche Geschichte(n) zeichnet er nach, wen lässt er zu Wort kommen – und wie geht er mit dem Scheitern um?



Zweierlei Zukunft: Vorwärtsgewandte Erinnerungen an digitale Vergangenheiten

Darf ich Sie dazu einladen, mit mir Memory Stealing zu betreiben? Das würde in etwa so aussehen: Sie blicken zurück in eine Vergangenheit, die gar nicht die Ihre ist. Aber diese Vergangenheit kommt Ihnen so bekannt vor, dass Sie nicht unterscheiden können, ob es sich um Ihre eigene Erinnerung handelt – oder doch die von jemand anderem.

Ich frage mich, welche Relevanz ein solches Memory Stealing für die Geschichtsschreibung der Medien haben könnte, wenn ich mich mit der Entstehung digitaler Medien und des Internets beschäftige. Ein Allgemeinplatz, der mir dabei immer wieder begegnet, ist die Erzählung einer verheißungsvollen Cyber-Zukunft. Trotz ihrer lebhaften Ausgestaltung scheint sie mittlerweile zu einem Eisschloss erstarrt zu sein. In unserer digitalen Wirklichkeit bleibt sie eine Erinnerung an das Versprechen einer besseren Welt, die immerfort, wie es scheint, auf ihre Realisierung wartet. Oder?

Ich wundere mich, dass aktuelle Vorstellungen digitaler Zukünfte scheinbar überhaupt nicht von diesen vergangenen Erinnerungen abweichen. Die cleanen, glatten, informationsschnellen Metaverses faszinieren hartnäckig; gleichzeitig werden die Zukünfte trotz ihrer geistreichen Opulenz nicht eingelöst. Das heißt nicht, dass diese Vorstellungen von Cyberspaces nicht auf bestimmte Weise real wären. Gerade solche vorwärtsgewandten Erinnerungen an digitale Vergangenheiten zeigen, dass sich immer jemand bemüht, die vergangenen Utopien am Leben zu erhalten. Doch was sagt mir das über die Erinnerung an unmögliche digitale Wirklichkeiten? Wohl zweierlei, spekuliere ich weiter: zwei verschiedene Zukünfte der digitalen Vergangenheit.

Die eine der beiden Zukünfte ist immer dieselbe. Sie normiert ein kollektives Gedächtnis von der Vorstellung, was das Digitale war, ist und immer bleiben wird. Memory Stealing überschreibt dagegen potenzial andere, alternative Zukünfte des Digitalen, die möglicherweise keine physische Basis haben, um erinnert zu werden, oder durch die dominanten Bilder in Vergessenheit geraten. Da ist zum Beispiel das Bild von drei Hackerinnen, die Ende der 1970er-Jahre bei Rotwein, Rotkohl und Brathähnchen an einem WG-Küchentisch sitzen und sich gut gelaunt unterhalten, bevor sie sich über Radiowellen ins öffentlich-rechtliche Fernsehen und den patriarchalen Diskurs hacken, um ihn mit einer feministischen Gegenerzählung zu überschreiben. Zweierlei Zukunft – denn die drei Hackerinnen aus Hexenschuss (1979), einem Film von Riki Kalbe, gehören einer zweiten, verschütteten Zukunft an. Sie wurden verdrängt von den scheinbar immer gleichen Hacker*innenfiguren, die sich ständig neu aktualisieren. Doch sie sind Teil der anderen Zukunft des Digitalen, die mir besser gefällt. Denn es gibt viele von ihnen – viele verschiedene Zukünfte des Digitalen.

Memory Stealing besetzt keine Zukunft mit etwas Vergangenem, das bereits feststeht.  Erinnerungen, die nicht die eigenen sind, werden vielmehr zur Methode, um etwas zurückzuerobern: lückenhafte, sich widersprechende, verdrängte oder nicht vorhandene Vergangenheiten des Digitalen.


– DR. ELISA LINSEISEN ist Juniorprofessorin für Medienwissenschaften, insbesondere digitale audiovisuelle Medien an der Universität Hamburg. Zuvor war sie Gastprofessorin an der Universität Wien, Gastwissenschaftlerin an der Bauhaus-Universität Weimar, sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn und der Ruhr-Universität Bochum. Sie forscht zu Techniken und Praktiken des Applizierens, Post Cinema, Digitale Kulturen, Medien- und Technikphilosophie, Formattheorie und Videoessayismus. Ihre Doktorarbeit unter dem Titel High Definition. Medienphilosophisches Image Processing erschien 2020 bei meson press.

Datum: 
26.11.2022, 17:30 Uhr
Moderation: 
Felix Hasebrink

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